Die Flöte des Flussschiffers: Ein vietnamesische Liebesgeschichte
"Körperliche Schönheit ist keine Garantie dafür geliebt zu werden. Aber beständige Liebe übertrifft die Grenzen der Schönheit selbst. "
Vor langer langer Zeit, im Zeitalter des alten Vietnam, lebte ein sehr reicher Mandarin, der nichts lieber hatte als seine Tochter. Mit einem Gesicht so schön wie Lotusblüten, liebte der Mandarin seine Tochter mehr als alle Reichtümer die er besaß. So kam es, dass er sich wünschte, kein Leid möge ihr jemals widerfahren und so lebte sie in einem großen Raum, den sie niemals verließ, im oberen Stock seines prächtigen Herrenhauses, das auf einem wunderschönen Hügel am Fluss stand.
Tag und Nacht blieb das schöne Mädchen in seinem Zimmer, bekleidet mit wunderschönen Kleidern aus feinster Seide, von Dienern mit den köstlichsten Speisen bewirtet und von den besten Musikern und Dichtern im Reich mit Melodien und Balladen unterhalten, die ihr Herz erfreuen sollten. Aber trotz alldem wurden ihre Freuden in dem prächtigen Zimmer eingeschränkt. Ihre Zehen hatten noch nie taufrisches Graß berührt, ihre Hände niemals frisches Obst von den Bäumen gepflückt, noch nie hatte sie ihre Finger in den fröhlich dahinplätschernden Fluss gehalten oder mit anderen Kindern herumgetollt und Geschichten mit anderen Menschen ausgetauscht – abgesehen von ihren ihr treu ergebenen Dienern. Und die einzigen Sonnenstrahlen, die jemals ihre Wangen berührt hatten waren die blassen Strahlen, die durch ihr königliches Fenster wanderten.
Eines Tages also, als die Tochter des Mandarins am Fenster saß und ihren Blick über den Fluss und die hübschen und anmutig dahintreibenden Boote gleiten ließ, fiel ihr ein kleines Ghe (kleines Boot) auf. Aus weiter Ferne konnte sie beobachten, wie der Matrose sein Boot gekonnt an eine ruhige Stelle im Fluss steuerte und eine kleine Bambusflöte an seine Lippen legte. Bald darauf ertönte die schönste Melodie, die sie jemals gehört hatte. Die Musik, die zu ihrem Fenster hinaufdrang war so beruhigend wie der klang einer sanften Brise und die Hymne berührte das Herz des Mädchens. Als sie so am Fenster stand und der schönen Melodie lauschte, dachte sie darüber nach, wie jung, stark und schön dieser Matrose wohl sein musste. Und den ganzen Tag blieb das schöne Mädchen am Fenster stehen, bis die Sonne über den hohen Bergen unterging. Sie beobachtete wie der Flussschiffer sein Ghe durch die Dämmerung lenkte, bis er außer Sichtweite war.
In dieser Nacht träumte sie von der wunderschönen Melodie und stellte sich vor, wie es wäre mit dem jungen Mann im Boot zu sitzen und zusammen den stillen, ruhigen Fluss entlang zu fahren während der Vollmond über ihnen die Nacht erhellte. In ihrem Traum erklärte er ihr all die seltsamen und wunderbaren Sehenswürdigkeiten, die vor ihnen auftauchten und zum ersten Mal sah sie Dinge, die sie nur aus Gedichten und Geschichten kannte. Sie berührte zum ersten Mal das kühle Flusswasser, das sanft gegen das Boot schlug, spürte den sanften Hauch des Abendwindes auf ihren Wangen und sog den süßen Duft wilder Orchideen ein, die von den Bäumen, welche das Ufer säumten herunterhingen.
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, während sie träumte. Als das Boot am Ufer anlegte, half der junge Mann ihr aus dem Boot. Am Rande einer schönen Wiese erblickte sie wilde Beeren und sie lief hinüber um welche zu pflücken. Sie genoss das Gefühl des frischen Grases an ihren Füssen und den angenehm säuerlichen Geschmack der frisch gepflückten Beeren, der ihr vollkommen neu war und den sie so viel köstlicher fand, als all die herrlichen Früchte, die sie bisher probiert hatte. Sie spürte, wie der junge Mann beschützend seine Arme um sie legte, als das laute Brüllen eines grünäugigen Tigers aus dem Dschungel zu ihnen herüberdrang – und dann wurde sie vom Klang der Blechbläser geweckt.
Gleich nachdem sie aus ihrem weichen Bett stieg, lief das hübsche Mädchen zum Fenster und sah hinaus auf den Fluss, in der Hoffnung einen Blick auf das winzige Ghe zu werfen. Ihr Herz schlug schneller, als sie das kleine Boot erblickte und die sanfte Melodie der Bambusflöte zu ihrem Fenster heraufdrang. Auch diesmal blieb sie den ganzen Tag am Fenster stehen und lauschte der Musik des Matrosen, bis sie all seine Lieder auswendig kannte. Immer, wenn die Strömung das Boot an den Fuß ihres Hügels trieb, ließ sie ein paar Blütenblätter aus dem Fenster fallen, in der Hoffnung der Wind möge sie in das Boot des jungen Mannes tragen.
In weiter Ferne fing der Matrose eines der Blütenblätter auf und sah in die Richtung aus der es gekommen war. Er konnte eine kleine Gestalt am Fenster des großen Herrenhauses auf dem Hügel sehen. Er sah dass es ein Mädchen war, aber sie war zu weit entfernt, sodass er nur vermuten konnte, wie sie wohl aussah. Doch er sah, dass sie seiner Musik lauschte und so legte er sein ganzes Herz und seine Seele in jede seiner darauffolgenden Melodien.
Eines Tages bemerkte ein feiner Herr der über den Fluss fuhr den Matrosen und lauschte der schönen Melodie. Er fragte ihn, für wen er auf seiner Bambusflöte spielte und der Matrose lächelte zaghaft. Er zeigte hinauf auf das Herrenhaus und sagte: „ Ich weiß ihren Namen nicht, aber jeden Tag steht sie am Fenster und lauscht meiner Musik. Sie wirft Blütenblätter in den Wind um mir zu zeigen, dass ihr meine Musik gefällt.“ Der feine Herr sah das Herrenhaus, lachte und sagte: " Du bist ein Narr, junger Matrose. Das ist die Tochter des reichen Mandarins, das schönste Mädchen in diesem Land, begehrt von den reichsten und mächtigsten Männern im gesamten Reich. Wie konntest du nur so dumm sein, zu glauben, sie würde einen einfachen Matrosen wie dich verehren? "
Der Matrose antwortete nichts, aber traurig legte er seine Flöte beiseite und steuerte sein Ghe den Fluss hinab, obwohl die Dämmerung noch nicht eingesetzt hatte. All seine Hoffnung, das Mädchen am Fenster würde ihn auf irgendeine Weise lieben zersprang und er dachte sein Herz würde es nicht ertragen ihr schönes Gesicht noch einmal zu sehen. Von nun an, so beschloss er, würde er nicht mehr Teil dieses Flusses sein.
Am darauffolgenden Morgen wartete die Tochter des Mandarins wieder am Fenster, aber das kleine Ghe war nirgends zu sehen. Sie wartete den ganzen Tag, aber der Matrose tauchte nicht auf. Ihr Herz wurde schwer und Tränen rollten aus ihren dunklen, traurigen Augen. Mehrere Tage vergingen, aber der Matrose blieb verschwunden. In der Hoffnung er möge bald wieder auftauchen wartete sie Tag und Nacht am Fenster und starrte hinaus in die Ferne. Sie weigerte sich sogar in ihr Bett zu liegen, so sehr sehnte sie sich nach dem Matrosen und seinen wunderschönen Melodien. Das schöne Mädchen wurde bald schwach und krank und so legten die Diener sie auf ihr Bett und riefen ihren Vater.
Als der reiche Mandarin von dem Matrosen erfuhr, nachdem sich seine Tochter so sehr sehnte, wurde er sehr wütend. Er rief die besten Ärzte des ganzen Reiches und bat sie seine Tochter zu heilen. Aber die Tage vergingen und keiner von ihnen konnte dem Mädchen helfen. Stattdessen wurde sie immer schwächer und zerbrechlicher. Der Mandarin war verzweifelt und weinte. Er beschloss nach dem Matrosen zu suchen und so rief er seine Diener und sandte sie aus, den jungen Mann mit seiner Bambusflöte zu finden.
Die Männer des reichen Mandarins suchten überall, sie durchsuchten alle Dörfer und Flüsse des Landes und kehrten schließlich mit einem vor Angst zitternden Matrosen zurück zum Herrenhaus. Mit der Flöte in der Hand, fragte er sich, was für ein Verbrechen er begangen hatte und warum er in das Herrenhaus gerufen worden war. Der reiche Mandarin erschien und fragte den jungen Mann: „Sind sie der junge Matrose, der für meine Tochter auf seiner Bambusflöte gespielt hat?“. Der junge Mann nickte still.
„Es scheint, ihre einfache Musik hat meine Tochter verzaubert. Doch jetzt ist sie sehr krank und kein Arzt im ganzen Land vermag es sie zu heilen. Ich habe im ganzen Land nach dem besten Ehemann für meine Tochter Ausschau gehalten. Wenn Sie sie heilen können und sie zustimmt, so würde ich mich freuen, wenn Sie um ihre Hand anhalten. Spielen Sie auf ihrer Flöte, junger Matrose und wenn meine Tochter sie auserwählt hat, dann soll es so sein.“
Der junge Mann blieb erstaunt stehen. Seine Hoffnung das Herz des jungen Mädchens zu gewinnen war wieder geweckt. Mit frischem Mut und der Freude in seinem Herzen setzte er die Flöte an die Lippen und begann die schönste Melodie zu spielen, die je im Herrenhaus erklungen war. Bald erfüllten die zarten und warmen Töne die leeren Hallen des großen Hauses und erreichten schließlich auch das Zimmer des jungen Mädchens. Es dauerte nicht lange, bis sie, den vertrauten Tönen zu folge, die Augen öffnete und ein Lächeln über ihr Gesicht huschte. „Er ist wieder da!“, flüsterte sie mit schwacher Stimme und bat die Dienerin ihr aus dem Bett zu helfen. Mit neuem Lebensmut ging sie durch die Hallen und suchte nach der Quelle der schönen Melodie. Ihr Herz pochte stark, als sie den jungen Mann am Ende der Halle erspähte. Und mit jedem Schritt, den sie auf ihn zuging pochte ihr Herz noch schneller. Doch als sie sich immer weiter näherte wurden ihre Augen plötzlich starr und kalt.
Ganz im Gegensatz zu dem schönen Matrosen ihrer Träume, hatte der Mann, der nun vor ihr auf seiner Flöte spielte ein grobes Gesicht, das sie nie würde lieben können. Allein aus Höflichkeit machte sie einen kleinen Knicks, dankte dem jungen Mann und bat ihren Vater ihn für seine Güte zu bezahlen. Sie ging zurück in ihr Zimmer und fragte sich, wie sie so dumm sein konnte, von einem einfachen Matrosen zu träumen und schwor sich, nie wieder am Fenster zu sitzen und sich nach einem weit entfernten Flussschiffer zu sehnen.
Das Herz des Matrosen war gebrochen. Nachdem er einen Blick auf das Gesicht des schönen Mädchens geworfen hatte, wusste er, dass sein Herz nun niemals Frieden finden würde. Er verweigerte das Gold, das der Mandarin ihm aus Dankbarkeit angeboten hatte und verließ das Herrenhaus schweren Herzens. Er verlor das Interesse an seiner Flöte, erinnerte sie ihn doch nur an das schöne Mädchen, das Blütenblätter in den Wind gestreut hatte. Er vermied es mit seinem kleinen Boot auf dem Fluss entlang zu fahren, sah er doch die Spiegelung ihres schönen Gesichts auf dem Wasser. Seine Sehnsucht nach dem schönen Mädchen, dessen Herz er nun nie würde gewinnen können wurde so stark, dass er an einem gebrochenen Herzen starb.
Aber die Dorfbewohner, die ihn auf seine letzte Reise auf dem Fluss schicken wollten konnten seine sterblichen Überreste nie finden und auch seine Flöte war spurlos verschwunden. Stattdessen lag ein wunderschönes Stück grüne Jade auf seinem Bett. Die Dorfbewohner brachten die Jade zu einem Steinmetz, der daraus einen wunderschönen Kelch zauberte.
Die Jahre vergingen und die wunderschönen Melodien, die einst das Dorf durchdrangen waren in Vergessenheit geraten. Eines Tages befahl der Mandarin seinen Dienern im ganzen Land nach dem kostbarsten Geschenk, das er seiner Tochter machen könnte, Ausschau zu halten. Einer dieser Diener erreichte nach langem Suchen das Dorf des Flussschiffers wo ihm ein einfacher Bauer den wunderschönen Kelch aus Jade für einen Sack voll Gold verkaufte. So erreichte der Kelch bald das Herrenhaus des reichen Mandarins.
Fasziniert von dem kostbaren Geschenk, befahl der Mandarin seinen Dienern, sie mögen seiner Tochter ihre Getränke nur noch in diesem Kelch servieren. Die Tochter freute sich sehr über das Geschenk und als sie den Becher das erste Mal an ihre Lippen hob, erklang eine lang in Vergessenheit geratene wunderschöne Melodie zu erklingen. Die Melodie war traurig aber schön. Als sie einen Blick in den Kelch warf, sah sie auf der spiegelnden Wasseroberfläche den Matrosen in seinem kleinen Boot.
Das Mädchen erinnerte sich an die Freude, die sie verspürt hatte, während sie der schönen Musik des Matrosen gelauscht hatte. Kein Mann aus dem ganzen Land, war er auch noch so schön, hatte ihr jemals dieses Gefühl an Wärme und Glück vermittelt. Die Tage und Nächte erschienen ihr länger und leerer als jene, die sie am Fenster verbracht und den Melodien des Matrosen gelauscht hatte. Ihr Herz fing an zu schmerzen und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Lieber Matrose“, flüsterte sie, „deine Liebe war die schönste, die ich je erfahren habe. Eine Liebe, die ich niemals wiederfinden kann. Es war falsch mich von dir abzuwenden. Wo auch immer du bist, ich wünschte ich könnte dir zeigen wie sehr ich mich nach deiner wunderschönen Musik und deiner Liebe sehne!“ Eine große, runde Träne kullerte über die schöne Wange des Mädchens und fiel in den Kelch. Als die Träne das Wasser im Kelch berührte zerbarst die Jade in tausende Stücke. Eine leichte Brise sammelte die Stücke ein und trug sie hinaus in die Nacht und eine wunderschöne Melodie erklang. Doch diesmal war die Melodie voller Freude. Der Matrose hatte das Herz des Mädchens am Fenster endlich gewonnen und seine Seele konnte nun in Frieden ruhen.