Der Literaturtempel (Văn Miếu)
Im Herzen von Ha Noi liegt eine weitere Sehenswürdigkeit, die auf keinen Fall ausgelassen werden sollte: Der Literaturtempel (Pho Quoc Tu Giam, Tel 845 2917, Eintritt 5000 Dong). Im Gegensatz zu den Vietnamesen ist für uns Westler der Begriff ‚Tempel’ hier irreführend. Van Mieu ist in unserem Sinn kein Tempelkomplex und auch nicht religiös geprägt. Van Mieu wurde im Jahr 1070 von König Ly Thanh Tong erbaut zur Erinnerung an Khong Tu (Konfuzius) und seine Lehren und diente der Erziehung und Ausbildung der Söhne der Mandarine und hochbegabter Söhne aus dem Volk. 1076 wurde Quốc Tử Giám, die Nationale Universität auf dem Gelände von Van Mieu gegründet.
Man hat vielleicht die Diskussion in Deutschland verfolgt über die Einrichtung von Eliteschulen und Eliteuniversitäten. – In Vietnam war Quốc Tử Giám die erste Eliteuniversität und über Jahrhunderte war es nur hier möglich, durch Ausbildung und Erziehung und entsprechende Prüfungen in den Status eines Mandarins aufzusteigen. Traditionell wurde hier auch der Kronprinz des jeweiligen Herrschers erzogen.
Für die Vietnamesen hatte und hat Konfuzius einen religiösen Aspekt. Konfuzius wird immer noch verehrt, fast mit religiösen Zügen. In früheren Zeiten wird, ähnlich wie in buddhistischen Tempeln, wurden im Literaturtempel daher häufig Kranke versorgt und Arme bekamen eine Mahlzeit. In der alten vietnamesischen Gesellschaft gab es die Aufteilung in Si, Nong, Cong und Thuong, d.s. in der Reihenfolge der sozialen Schichten Gelehrte, Bauern, Handwerker und die Händler. Auch in der heutigen Gesellschaft ist dieses konfuzianische Denken noch sehr stark verbreitet und die Eltern streben für ihre Kinder stets nach etwas Höherem, und das geht nur über Ausbildung. – Kennen wir das irgendwoher?
Van Mieu war von 1076 – 1779 eine lebendige Universität. Mehr als 1000 Doktoren promovierten hier im Laufe der Jahrhunderte. Für die heutigen Vietnamesen steht der Literaturtempel immer noch als Symbol für Wissenschaft und Lehre und gilt als eines der wichtigsten Bauwerke in Hanoi und in Vietnam.
Der Komplex teilt sich in 5 Bereiche. Das Äußere Tor wird von 2 Stelen eingerahmt, auf denen jeweils die Aufforderung „ha ma“ steht, dt. „Steige ab! (vom Pferd)“. An dieser Stelle musste jeder Besucher vom Pferd steigen, unabhängig von Rang und Namen. Hier beginnt der Hauptweg und von hier aus musste die gesamte Tempelanlage zu Fuß begangen werden. Vor dem ersten Bereich liegt das Haupttor (Van Mieu Mon), das von 2 steinernen Drachen bewacht wird. Von hier aus führt der Hauptweg durch einen kleinen Garten weiter bis zu dem Dai Trung Tor, durch das man den zweiten Bereich betritt. Auch hier findet sich wieder ein kleiner Garten. Der Hauptweg führt weiter bis zum zweistöckigen Khue Van Cac (Literaturpavillon). Zwei parallele Seitenwege rechts und links führen jeweils durch zwei kleinere Tore.
Nach diesem dritten Tor kommt der Stelenhof. Dies ist wohl der interessanteste Teil der Anlage, denn rechts und links finden sich steinerne Schildkröten, die auf ihren Rücken steinerne Stelen tragen, auf denen Name, Geburtsort und Ergebnis der Doktorprüfung des jeweiligen Prüflings eingemeißelt sind. Das sind über 1000 Namen für die Zeit von 1442 – 1780. Es finden sich 82 Stelen. Nach der langen Zeit gelten 34 als verloren. Ab 1780 wurde die Hauptstadt nach Hue verlegt und es fanden nur noch kleinere Prüfungen statt. In der Mitte zwischen den Stelen liegt zwischen kleinen Mauern der Brunnen des Himmlischen Lichts (Thien Quang Tinh). Das Dai Thanh Tor (Tor des Großen Erfolgs) führt in den vierten Bereich, den eigentlichen Tempelbereich. Zu beiden Seiten stehen Pavillons, die ursprünglich dem Andenken an die 72 bekanntesten Schüler von Konfuzius dienten. Heute finden sich hier Büros und Andenkenläden und ein kleines Museum. Im fünften Bereich schließlich befand sich die Nationale Universität (Quoc Tu Giam).
Auch im Literaturtempel ist die Zeit nicht spurlos vorbeigegangen. Zerstörungen, Wiederaufbau, wieder Zerstörungen, usw. gab es genauso hier wie an allen anderen Orten. Heute wird wieder aufgebaut und restauriert. Die Ruhe, die hier ehemals wohl meistens herrschte findet man vielleicht nicht mehr vor. Trotzdem spürt man etwas von der Atmosphäre des Jahrhunderte langen Lernens, vom Schicksal und Leben in diesen alten Mauern. Wir würden vielleicht von ‚ehrwürdigen Hallen’ sprechen, wenn es hier solche Hallen gäbe. Aber die Aura ist genau das: alt und ehrwürdig. Der Wert der Erziehung im früheren Vietnam ist spürbar und lohnt einen Besuch in dieser altehrwürdigen Anlage.